Retten Boomer-Soli und Rentner-Pflichtjahr den Sozialstaat?
Bundeskanzler Friedrich Merz kündigt für den Herbst grundlegende Reformen der Sozialversicherungen an. Im Zentrum stehen Rente und Pflege. Ökonomen wie Marcel Fratzscher fordern neue Lastenteilung zwischen den Generationen – etwa über einen "Boomer-Soli" und ein Pflichtjahr für Rentner. Bevölkerungsforscher Reiner Klingholz hält ein Rentenalter von 70 für unumgänglich. Pflegebeauftragte Katrin Staffler sieht ohne Leistungskürzungen keine Zukunft für das System. Die Debatte um die Zukunft des Sozialstaats ist entbrannt.
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Vergeht den Babyboomern bald das Lachen? Sie sind das Problem und sollen es auch richten
Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), kritisiert die aktuelle Rentenpolitik scharf. Im Spiegel-Interview spricht er von einem "eklatanten Bruch des Generationenvertrags". Die Bundesregierung habe den Nachhaltigkeitsfaktor in der Rente ausgesetzt, wodurch die Belastungen einseitig den Jüngeren aufgebürdet würden. Das Rentenniveau von 48 Prozent schaffe die "schlechteste aller Welten": Für ärmere Babyboomer sei es zu niedrig, für Besserverdienende zu hoch, gleichzeitig mindere es die Wettbewerbsfähigkeit.
Das DIW schlägt einen "Boomer-Soli" vor, eine Abgabe auf Alterseinkünfte der oberen 20 Prozent. Davon würden die einkommensschwächeren 40 Prozent der Rentner profitieren. Gegen den Vorschlag regte sich heftiger Widerstand, den Fratzscher als "Realitätsverweigerung" deutet. Zusätzlich fordert er ein verpflichtendes soziales Jahr für Rentner. Ältere müssten sich stärker in Pflege, Gesundheit oder Verteidigung einbringen, um die Lasten gerechter zu verteilen.
Rente mit 70 als Ausweg
Bevölkerungsforscher Reiner Klingholz hält im Handelsblatt eine Kopplung des Rentenalters an die steigende Lebenserwartung für unvermeidlich. Auch wenn Zuwanderung, höhere Erwerbsbeteiligung von Frauen und Älteren sowie weniger Frühverrentung nötig seien, könne das Problem der Rentenversicherung letztlich nur über ein höheres Eintrittsalter entschärft werden. Zudem warnt Klingholz: "Die Erwartung, dass im Jahr 2045 alle, die auf Pflege angewiesen sind, mit Pflege rechnen können, ist unrealistisch."
Die Wirtschaftsweise Monika Schnitzer teilt diese Einschätzung. Sie sieht die Sozialversicherungen insgesamt "nicht zukunftsfest" und warnt im Gespräch mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland vor einem drohenden Kollaps. Besonders die Babyboomer müssten stärker selbst für das Alter vorsorgen, etwa über einen Fonds, um ihre spätere Pflege zu finanzieren. Auch das Eigenheim müsse zur Finanzierung der Pflege herhalten: Wer Vermögen besitze, müsse es im Zweifel nutzen, bevor die Allgemeinheit einspringe.
Pflegebeauftragte drängt auf Einschnitte
Für die Pflege mahnt die neue Beauftragte der Bundesregierung, Katrin Staffler (CSU), grundlegende Änderungen an. In der Allgäuer Zeitung erklärt sie: "Ohne grundsätzliche Änderungen bei den Leistungen wird es nicht gehen." Sie verweist als Beispiel auf das monatliche Budget für Pflegehilfsmittel, das häufig ungenutzt bleibe oder unnötige Lagerberge schaffe. Stattdessen solle das Geld direkt in höhere Pflegegelder fließen.
Darüber hinaus kritisiert Staffler die "extrem kleinteilige" Organisation der Pflegeversicherung. Besonders im Pflegegrad 1 sieht sie Potenzial für eine Reform hin zu flexiblen Budgets, die individuell einsetzbar sind. Ziel sei es, Bürokratie abzubauen und Hilfe passgenauer bereitzustellen.
Ein Herbst der Reformen
Bundeskanzler Merz verspricht einen Herbst der Reformen. Angesichts steigender Beitragssätze und einer alternden Gesellschaft drängt die Zeit. Rentenalter, Generationenlasten und Pflegefinanzierung stehen auf der Agenda. Die Positionen der Fachleute unterscheiden sich im Detail, doch in einem Punkt herrscht Einigkeit: Ohne Einschnitte, Umverteilung und neue Modelle wird das System nicht stabil bleiben.
Der politische Richtungsstreit ist damit voll entbrannt. Wohlfahrtsverbände und Gewerkschaften wehren sich gegen Kürzungen, fordern vor allem mehr Geld. Auch innerhalb der Koalition sind die Positionen von Union und SPD entgegengesetzt. Nun wird der Herbst zum Prüfstein dafür, ob die Bundesregierung die Kraft für grundlegende Reformen tatsächlich aufbringt.
Thomas Hartung