Träger kritisieren Zweckentfremdung des Pflegegelds
Immer mehr Pflegebedürftige und Angehörige nutzen das Pflegegeld nicht für seinen ursprünglichen Zweck, sondern kompensieren damit die stark gestiegenen Lebenshaltungskosten, berichten Mitglieder der Ruhrgebietskonferenz im Gespräch mit Care vor9. Die Folge: Der körperliche Zustand der Pflegebedürftigen verschlechtert sich rapide und die Pflegedienste müssen wegen rückgängiger Nachfrage ihr eigentlich bitter benötigtes SGB-XI-Angebot herunterfahren.
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Wenn das Pflegegeld für die laufenden Kosten und nicht für Pflege ausgegeben wird, beschleunigt dies oft die Bedürftigkeit
"Wir erleben seit etwa einem Jahr eine Situation, die sich immer weiter zuspitzt", sagt Christian Westermann, Geschäftsführer vom Pflegedienst "Engel vonne Ruhr". "Ursprünglich war es so: Die Großmutter bekommt Pflegegrad 2 und wir vereinbaren mit der Familie dreimal die Woche Unterstützung beim Duschen und eine tägliche Medikamentengabe. Mit der Zeit kommen ein paar Hilfsmittel hinzu, irgendwann ist dann eine Höherstufung nötig. Jetzt hingegen rufen die Angehörigen uns aufgelöst an, mit der Bitte, sofort zu helfen. Der Kunde hat Pflegegrad 2, heißt es. Wenn wir dorthin kommen, sehen wir aber, dass er einen Bedarf von Pflegegrad 4 hat. Es sind keinerlei Hilfsmittel vor Ort, er liegt in einem Futonbett. Wir steigen dann abrupt in die Versorgung ein und organisieren erst einmal ein Pflegebett, auf das wir in der Regel aber vier Wochen warten müssen."
Erklären lässt sich die Zunahme solcher Extremfälle damit, dass immer mehr Angehörige die Versorgung komplett selbst übernehmen – meistens, um mit dem Pflegegeld die gestiegenen Lebenshaltungskosten zu kompensieren. "Die Leute hier im Ruhrgebiet leiden besonders unter der Preissteigerung. In unseren Einrichtungen erhalten 70 Prozent der Bewohner Sozialtransferleistungen", sagt Ulrich Christofczik, Geschäftsführer der Evangelischen Dienste Duisburg.
Paradox: Immer mehr Beratungsbesuche, aber SGB-XI-Leistungen gehen zurück
Inzwischen gibt es eine ausgesprochen paradoxe Entwicklung: "Wir beobachten aktuell einen immensen Anstieg bei den Beratungsgesprächen, die für den Erhalt des Pflegegelds verpflichtend sind. Wir machen Beratungsbesuche ohne Ende, sie haben sich bei uns tatsächlich mehr als verdoppelt. Gleichzeitig registrieren wir einen immensen Rückgang an gebuchten SGB-XI-Leistungen bei den Pflegediensten", berichtet Thorsten Reinhardt, der als Prokurist und Pflegedirektor bei den Diakoniestationen Essen arbeitet.
Wenn aber Pflegebedürftige trotz ausgeprägten Bedarfs nur wenige Leistungen in Anspruch nehmen, geraten ambulante Pflegedienste in ein Dilemma, so Kerstin Pröse, Bereichsleitung der Diakoniestationen des Diakonisches Werks Gladbeck-Bottrop-Dorsten: "Wenn wir einen Kunden mit hohem Bedarf nur noch einmal in der Woche ansteuern, wird die Pflege extrem aufwendig, denn wir können Dinge wie Haare waschen, Fingernägel schneiden etc. nicht mehr auf mehrere Tage in der Woche verteilen. Es ist uns im Grunde nicht möglich, Kunden, die nur noch den Sachleistungsbetrag für die ambulante Pflege aufbringen wollen, ausreichend zu versorgen."
Betreiber müssen Arbeitszeit der Mitarbeiter reduzieren
Die sinkende Nachfrage nach SGB XI-Leistungen zwingt Pflegeanbieter, ihre Strategie zu ändern. So berichtet der Vorstand des DRK-Kreisverbands Gütersloh, Dennis Schwoch, dass sein Unternehmen die wegbrechenden Einnahmen durch ein erweitertes Essen-auf-Rädern-Angebot gegenfinanziert. Andere Träger bauen ihr Portfolio in der häuslichen Krankenpflege aus und konzentrieren sich beispielsweise verstärkt auf die Wundversorgung.
Auch personalstrategisch muss mancher Betreiber plötzlich seinen Kurs ändern: Wer das Glück hat, genügend Fachkräfte zu haben, ist jetzt gezwungen, die Stundenzahlen zu reduzieren, und kann oft auch keine Auszubildenden übernehmen.
Zweckbindung des Pflegegelds könnte helfen
"Wir sehen, dass jetzt viele Angehörige die Pflege lange Zeit übernehmen", sagt Westermann. "Aber wenn sie uns dann anrufen, sind sie komplett ausgebrannt. Es ist dann oftmals schon zu spät für die ambulante Pflege. Die Pflegebedürftigen müssen ins Heim und dann wird es richtig teuer." Hinzu kommt: Jetzt werden gerade die personellen Kapazitäten abgebaut, die am Ende umso mehr gebraucht werden.
Doch wie lässt sich die Entwicklung aufhalten? Das Pflegegeld zu streichen, halten die Mitglieder der Ruhrgebietskonferenz für keine gute Idee. Aber eine Zweckbindung mit Nachweispflicht würde sicherlich helfen, auch wenn dies mit mehr Bürokratie und Kontrolle verbunden ist.
Es gibt Pflegegeld-Empfänger, die keine Pflege brauchen
Ein weiterer Vorschlag ist eine häufigere Nachbegutachtung. Denn es gibt auch Pflegegeldempfänger, die gar keine Versorgung benötigen. Westermann sagt dazu: "Da haben doch so manche während der Pandemie, als es die telefonische Begutachtung gab, einen Pflegegrad erhalten, den sie langfristig gar nicht brauchen. In den Beratungsgesprächen beteuern Versicherte immer wieder, dass eine ambulante Pflege nicht erforderlich sei, sie hätten aber schließlich Anspruch auf Pflegegeld." In solchen Fällen habe sehr häufig erschreckenderweise kaum oder nie mehr eine Nachbegutachtung stattgefunden.
Kirsten Gaede