Was nützt die TI den Pflegeanbietern, Herr Fischer?
Augenblicklich empfinden viele Pflegebetreiber die Anbindung an die Telematik vor allem als teure und aufwendige Pflicht ohne viel spürbaren Nutzen. Care vor9 bat Opta-Data-Geschäftsführer Andreas Fischer deshalb im Interview um einen Überblick: Was ist jetzt schon möglich? Was kommt in Kürze? Welche Arbeitserleichterungen eröffnen sich in ein paar Jahren durch die TI?
Opta Data
Andreas Fischer gehört seit 2000 zur fünfköpfigen Geschäftsführung von Opta Data. Außerdem ist er Vorsitzender des Verbands für digitale Standards in der Pflege (VdSP)
Pilotanwender für G-CARE-Gesundheitsarmband gesucht
Die Innovation für automatisiertes Gesundheitsmonitoring sucht Pflegeeinrichtungen und ambulante Dienste als Pilotanwender: In Israel und den USA bereits tausendfach erfolgreich im Einsatz, profitieren nun auch deutsche Pflegeeinrichtungen und Pflegebedürftige von mehr Sicherheit durch das G-CARE-Armband und die dahinter stehende künstliche Intelligenz. Es überwacht alle wichtigen Vitalwerte und alarmiert bei gesundheitlichen Auffälligkeiten oder Stürzen sofort Pflegepersonal und Angehörige. Care vor9
Als ich zuerst von der Telematikinfrastruktur (TI) hörte, dachte ich: Wunderbar, wenn ein Bewohner aus dem Krankenhaus kommt, können Pflegeheime und ambulante Dienste demnächst in der elektronischen Patientenakte die klinische Behandlung genau nachvollziehen und brauchen nicht mehr, wie oft üblich, hinterher zu telefonieren. Aber ich wurde schnell belehrt, dass meine Vorstellung zu blauäugig sei. Ist sie das wirklich?
Nein, Ihre Vorstellung war im Kern richtig. Genau dieses Ziel verfolgen wir. Die Vorstellung, dass Pflegeeinrichtungen durch die TI endlich strukturiert und sicher auf medizinisch relevante Informationen zugreifen können, ist nicht naiv, sie ist notwendig. Natürlich, der Weg dorthin ist lang, aber die Vision einer sektorenübergreifenden Versorgung, bei der alle Beteiligten Zugriff auf aktuelle Informationen haben, ist genau das, worauf wir hinarbeiten. Und zwar nicht in ferner Zukunft, sondern jetzt. Deshalb haben wir den Verband für digitale Standards in der Pflege (VdSP) gegründet, um gemeinsam mit der Pflegepraxis, der Industrie und der Politik praktikable und interoperable Lösungen zu schaffen.
Bevor Sie uns einen Ausblick auf die Zukunft geben, lassen Sie uns kurz beim Hier und Jetzt verharren: Welche Möglichkeiten bieten sich bereits jetzt einem Pflegeanbieter, der an die TI angeschlossen ist und über die SMC-B-Karte Zugang zur KIM-Plattform hat, sprich, zum verschlüsselten E-Mail-Verfahren?
Die KIM-Kommunikation ist derzeit die zentrale Anwendung der TI in der Pflege. Sie ermöglicht einen sicheren und datenschutzkonformen Austausch zum Beispiel mit Ärztinnen und Ärzten, Kliniken und Krankenkassen. Konkret heißt das, Pflegeanbieter können Versichertenstammdaten prüfen, elektronische Nachrichten verschicken und empfangen, statt zu faxen oder Briefe zu versenden. Das spart nicht nur Zeit, sondern erhöht auch die Informationssicherheit. Voraussetzung ist allerdings, dass die jeweilige Pflegesoftware KIM integriert. Daran arbeiten unsere Mitglieder aktiv.
So könnte die Pflegeeinrichtung also relativ schnell an die relevante Information kommen, wenn der Bewohner ohne Arztbrief und Überleitungsbogen am Wochenende aus dem Krankenhaus zurückkommt? Das Krankenhaus könnte den Arztbrief in der verschlüsselten E-Mail als Anhang schicken?
Genau. Das ist ein gutes Beispiel für einen echten Use Case, den wir heute schon abbilden können, vorausgesetzt, alle Beteiligten sind angeschlossen. Noch besser wäre allerdings ein standardisierter elektronischer Überleitungsbogen, im MIO-Format. Dieser ist von der Gematik bereits spezifiziert, aber eben noch nicht flächendeckend umgesetzt. Genau hier setzt der VdSP an, wir bringen die Pflegepraxis, die IT-Anbieter und die Standardisierung zusammen, um diese Anwendung schnellstmöglich verfügbar zu machen.
Was heißt das genau: Die Anwendung ist schon spezifiziert?
Die inhaltliche Struktur, die technischen Anforderungen und die Übermittlungswege wurden von der Gematik definiert. Das heißt, wir wissen genau, wie der elektronische Überleitungsbogen aussehen und funktionieren soll. Die Umsetzung in den Softwarelösungen und der verbindliche Einsatz fehlen aber noch. Das liegt auch daran, dass es bislang keinen klaren politischen Fahrplan gibt. Wir fordern hier Verbindlichkeit und Tempo.
Wann ist mit dem elektronischen Überleitungsbogen zu rechnen?
Das hängt von mehreren Faktoren ab, politischer Wille, technologische Umsetzung, Finanzierung. Wir sehen unsere Aufgabe darin, gemeinsam mit den Pflegeverbänden und IT-Anbietern eine konsolidierte Lösung zu entwickeln und der Politik zur Verfügung zu stellen. Wenn wir das tun, erhöhen wir die Chance, dass der Bogen tatsächlich genutzt wird und das nicht irgendwann, sondern zeitnah.
Der elektronische Überleitungsbogen ist aber nur der Anfang. Für Pflegedienste ist es wichtig, dass sie alle Verordnungen, die ausgestellt werden, digital verwalten können und kein Papier mehr händeln müssen. Wenn der Arzt oder die Ärztin heute eine Verordnung für die Pflege nach SGB V ausstellt, muss der Pflegedienst sehr häufig noch per Papier die Verordnung an die Krankenkasse schicken, per Post mit entsprechender Postlaufzeit. Die Verordnung trifft also nach einigen Tagen bei der Kasse ein, wird gestempelt und genehmigt und geht per Post zurück.
Ein Prozess, der wie aus einer anderen Zeit anmutet und vielfach kritisiert wird...
Richtig, das ist in der Tat ein gravierendes Problem. Der Prozess verzögert die Versorgung und bindet Ressourcen. Deshalb ist es so wichtig, die gesamte Verordnungskette über die TI digital abzubilden. Die Verordnung muss digital aus der Praxis an den Pflegedienst übermittelt werden können, der sie dann an die Kasse weiterleitet. Sobald die Genehmigung digital zurückkommt, kann die Leistungserbringung starten, ohne Papier, ohne Postlaufzeiten, ohne Mehraufwand.
Und wie sieht es mit Arzneimittelrezepten aus? Die verursachen auch viel Aufwand.
Das E-Rezept ist ein weiterer zentraler Anwendungsfall der TI. In der Pflege bedeutet das konkret: Der Pflegedienst meldet an die Arztpraxis, dass für Patient X ein Medikament benötigt wird. Die Praxis stellt das Rezept digital aus, es wird im Rezeptfachdienst der TI abgelegt, die Apotheke wird informiert und gibt das Medikament aus. Der ganze Prozess ist schneller, sicherer, effizienter und spart Pflegekräften viel Laufarbeit und Organisation.
Aber wie funktioniert das genau? Das Rezept muss doch auf die Gesundheitskarte des Patienten gelangen?
Nicht direkt. Das Rezept wird im sogenannten E-Rezept-Fachdienst gespeichert, verknüpft mit der Kartennummer des Versicherten. Die Apotheke kann es dann abrufen, sobald sie informiert wurde. Das System ist so konzipiert, dass nur autorisierte Stellen Zugriff erhalten. Das erhöht die Datensicherheit und reduziert Missverständnisse.
Haben Sie eine Vorstellung, wie viel Zeit sich dabei einsparen lässt? Gibt es einen Pflegedienst, der bereits so arbeitet?
Noch, ist das Zukunftsmusik, aber nicht mehr lange. Einige unserer Mitglieder haben entsprechende Lösungen bereits entwickelt und auf Messen wie der DMEA vorgestellt. Die Zeitersparnis hängt natürlich von der Größe und Struktur des Pflegedienstes ab, aber man kann sicher von einer deutlich spürbaren Effizienzsteigerung ausgehen.
Sie sagen, Sie haben die Lösung in der Schublade. Was ist das genau für eine Lösung?
Es geht um ein standardisiertes digitales Verordnungs- und Rezeptmanagement, vom ärztlichen Input bis zur Abgabe durch die Apotheke. Dabei geht es nicht nur um Technik, sondern auch um Prozesse: Wer informiert wen? Wer dokumentiert was? Unser Ziel ist es, diese Abläufe für die Pflegepraxis beherrschbar zu machen. Der Verband bündelt hier die Expertise, um Lösungen interoperabel und flächendeckend nutzbar zu machen.
Wichtig ist schließlich, dass diese Technologien standardisiert werden, damit auch andere Anbieter sie nutzen können. Wir tauschen uns über die technischen Spezifikationen aus, die wir jeweils entwickelt haben, damit es insgesamt schneller vorangeht.
Der VdSP ist keine Plattform für Einzellösungen, sondern für gemeinsame Standards. Wir bringen Anbieter, Pflegeverbände und Praxis zusammen, tauschen technische Spezifikationen aus, schaffen Konsens und schlagen Lösungen vor, die dann auch regulatorisch tragfähig sind.
Das ist ungewöhnlich, dass Wettbewerber sich über ihre aktuellen Entwicklungen austauschen. Warum machen sie das?
Weil wir im Gesundheitswesen nicht in klassischen Marktlogiken denken dürfen. Die TI ist eine Infrastruktur, die nur dann funktioniert, wenn sie einheitlich ist. Deshalb müssen wir als Branche gemeinsam vorangehen und uns mit den politischen und regulatorischen Instanzen abstimmen. Genau das leisten wir mit dem VdSP.
Im VdSP sind nicht nur Software-Anbieter Mitglied?
Genau. Neben führenden Software-Anbietern haben sich auch Pflegeverbände wie der Landesverband für freie ambulante Krankenpflege, der LFK, angeschlossen. Weitere Verbände stehen vor dem Beitritt. Das zeigt: Wir verstehen uns nicht als Lobbyverein einzelner Unternehmen, sondern als Beschleuniger für eine praxistaugliche Digitalisierung der Pflege.
Durch den Schulterschluss mit der Pflegepraxis wollen wir zu funktionierenden Ergebnissen kommen, die dann reibungsloser mit der Politik abgestimmt werden können. Schließlich ist die Gematik mit dem Problem konfrontiert, von einer Vielzahl von Praxisakteuren Expertise abrufen zu müssen. Mit unserem Verband können wir ihr bereits abgestimmte funktionierende Lösungsvorschläge bieten und es ist unsere Hoffnung, dass die Gematik und die Politik das auch annehmen.
Wir wollen die vielen Einzellösungen konsolidieren, mit der Praxis abgleichen und dann politisch nutzbar machen. Das ist unser Ziel. So schaffen wir einen echten Mehrwert für alle Beteiligten und vor allem für die Menschen, die auf Pflege angewiesen sind.
Das Interview führte Kirsten Gaede